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100 Tage bis zum zweiten Herbst

100 Tage bis zum zweiten Herbst
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Welche ist die schönste Jahreszeit? Viele Winzer werden diese Frage sicherlich mit „der Herbst“ beantworten. Aber Moment, so weit sind wir doch noch gar nicht…

Von Sarah Hulten

Im letzten Heft waren wir im Winter stehen geblieben, als nach meiner Weingutsgründung das Crowdfunding zur Finanzierung des neuen Weinberges erfolgreich abgeschlossen war. Mehr als 300 Unterstützer aus verschiedenen Ländern hatten sich finanziell an dem Projekt beteiligt. Alle waren davon überzeugt, dass ich es schaffen würde, aus einer 40jährigen Brache am Mittelrhein in purer Handarbeit wieder einen Weinberg zu machen und damit ein Stück wertvolle Kulturlandschaft zu erhalten. Über 90 individuelle Urkunden wurden für die Rebstockpaten mit einem Wachssiegel veredelt und unzählige Dankeschön-Postkarten per Hand geschrieben.

Derweil blieb die Arbeit im Weinberg nicht liegen. Nach einem Jahr der Rodung und reichlich Brombeerwurzeln-Ausbuddeln sind die ersten beiden Terrassen von dem ursprünglich dichten Gestrüpp befreit. Das grobe Roden der oberen Terrassen folgte. Um ehrlich zu sein hatte ich schon fast vergessen, wie unglaublich anstrengend es ist, mit der Motorsense im Steilhang gegen zwei Meter hohe Dornenhecken zu kämpfen. Dieses Mal kamen allerdings auch von Zeit zu Zeit fleißige Unterstützer des Crowdfundings mit in den Weinberg, um fleißig beim Wurzeln entfernen zu helfen.

Mitte Februar war auch dieser Schritt geschafft. Erstmals nach über 40 Jahren liegt der Weinberg wieder komplett frei. Dadurch kamen die Mauern zum Vorschein. Gerade die Abschnitte, welche sich auf die Zeit des Dreißigjährigen Krieges zurückdatieren lassen, sind nicht immer gut in Schuss. Es war schon vorher klar, dass die Mauern saniert werden müssten, doch nach einer langen Regenzeit stürzte eine Mauerecke sogar ganz ein. Nach dem ersten Schreck wurde aber klar: Wir hätten diesen Teil sowieso Stein für Stein abtragen müssen. Die Natur hatte uns also ein wenig Arbeit abgenommen.

„Wo ist der Radlader?“, hätte ein Landschaftsgärtner vermutlich gefragt und neue Steine bestellt. Doch es war mir wichtig, die Mauer nach der alten Tradition aus dem zu bauen, was der Weinberg hergibt. Kurzerhand organisierte ich ein Seminar zum Thema „Bau von Trockenmauern“. Der Winzerkollege Helge Ehmann von der Lahn unterstützte uns an diesem Tag und erklärte den Teilnehmern, dass es eine Tradition sei, eine versiegelte Weinflasche mit einem beschriebenen Pergament darin im Mauerwerk einzubauen. Nun gilt es, eine alte Winzerregel einzuhalten. Diese besagt, dass die Trockenmauer zu meinen Lebzeiten nicht einstürzen darf. Ein hoher Anspruch, wenn man bedenkt, dass ich erst 26 Jahre alt bin. Der Experte ist jedoch zuversichtlich, dass die geheimnisvolle Flasche noch lange von der neuen, vorbildlichen Mauer umgeben bleiben wird.

Jetzt oder nie

Seitdem ich etwa 14 Jahre alt war, träumte ich davon, einmal nach Australien in die Nähe von Adelaide zu reisen. Bei einer Selection Verkostung 2016 lernte ich Christian Canute kennen. Der sympathische Winzer war als Gastjuror in Deutschland und hatte gleich einige seiner Weine zu selection mitgebracht. Während die Weine von der Jury blind verkostet wurden, ließ ich es mir nicht nehmen, die Reste abseits der Juroren mit ihm gemeinsam zu genießen. Die geballte Aromendichte war faszinierend. Wir verstanden uns prima und er meinte: „Du musst unbedingt irgendwann mal zu uns ins Barossa Valley kommen.“ Einladung angenommen, denn wenn in Deutschland noch der letzte Schnee fällt, ist in Australien gerade Herbst. Die Weinbergspflanzung würde bei wärmeren Temperaturen mehr Sinn machen und könnte noch warten. Ein Blick über den Tellerrand hatte noch niemandem geschadet. Schließlich absolvieren auch die Geisenheimer Weinbaustudenten Auslandspraktika. Da noch genug Resturlaub bestand und mein Chef den langen Urlaub ermöglichte, buchte ich recht kurzfristig einen Flug nach Adelaide. Erst anschließend rief ich Christian an: „Hey, ich habe gestern einen Flug nach Adelaide gebucht. Wie wäre es, wenn ich euch bei der Weinlese helfe?“

Eigentlich wären noch ein paar Wochen gewesen, um in Ruhe alles vorzubereiten. Doch dann eröffnete sich mir die Möglichkeit in dem Weinberg, aus dem auch mein Erstlingswein stammte eine kleine, 2012 gepflanzte Junganlage zu übernehmen. Es ist toll, direkt einen Weinberg im Ertrag zu haben um weiter machen zu können. Quasi über Nacht die komplette Verantwortung zu haben ist eine anspornende Herausforderung. Peter Selt wird auch weiterhin einen Platz in seinem Keller bereitstellen. Doch wäre es möglich, in den letzten Tagen vor dem Urlaub noch den kompletten Rebschnitt zu schaffen? Parallel zu der Prüfung für den Sachkundenachweis im Pflanzenschutz? Glücklicherweise wurden alle Arbeiten rechtzeitig fertig und die Prüfung mit einer Eins bestanden.

Zweimal Herbst im Jahr

Über die sechs Wochen in Australien ließe sich ein eigener Artikel verfassen. Direkt nach der nächtlichen Landung und dem späten Willkommensbier arbeitete ich am nächsten Morgen schon ab 7.30 Uhr bei 31 Grad und Sonnenschein elf Stunden lang im Weingut mit und eröffnete die Rotweinlese. Der Jetlag blieb aus und wich einer Euphorie: Was gibt es Schöneres, als zweimal Herbst in einem Jahr? Vier Wochen lang arbeiteten wir alle gemeinsam in jeglichen Bereichen. Schon morgens wurde im Weingut die Musik aufgedreht und fröhlich gestimmt oblag meist mir die Analyse der Weine. Die „deutsche Genauigkeit“ wurde mit einem Augenzwinkern geschätzt. Christians Tochter Cadell arbeitete im Vorjahr einige Zeit bei einem deutschen Weingut, daher verstanden wir uns prima.
Christian, seine Familie und auch der Freundeskreis, insbesondere Winzer und Restaurantbesitzer Peter Clarke, ließen es an nichts mangeln. Als ich nach den vier Wochen Lese einen zweiwöchigen Roadtrip durch den halben Kontinent startete, fiel mir auf, dass ich bereits Weine von rund zwei Dritteln der besten australischen Winzer probiert hatte.

Zu viele Dinge haben mich beeindruckt, als dass ich sie an dieser Stelle aufzählen könnte. Besonders in Erinnerung bleibt der Tag, an dem mitten in der Lese die Weinpresse nicht mehr funktionierte. Der Techniker verkündete, dass das Ersatzteil erst in sieben bis elf Tagen aus Sydney gebracht werden könne, eine Situation, wie sie jeden Winzer beunruhigen würde. Doch Christian schaute uns an und meinte ganz gelassen: „No worries. She´ll be right. Wir können heute nicht mehr viel machen. Lasst uns in den Pub fahren!“. „No worries“ – dieser typisch australische Ausdruck trifft die Lebensweise dort auf den Punkt. Man könne es nicht ändern, wozu sich ärgern. Es gibt Schlimmeres, alles werde gut.

Das fasst es auch eigentlich zusammen: Ich ging nach Australien, um etwas über Wein zu lernen – und das tat ich auch. Dabei lernte ich noch viel mehr über das Leben selbst.

Zurück am Mittelrhein

Zuhause war es die ersten Tage noch etwas kalt, aber das änderte sich schnell. Gemeinsam mit 20 Rebstockpaten pflanzten wir Mitte Mai im Sonnenschein die ersten 150 Reben. Der Zuspruch und die Anerkennung freuten mich sehr. Alle waren wissbegierig und hatten Spaß. Leider war es unmöglich, beide Terrassen an nur einem Tag zu pflanzen. Meinen australischen Hut tragend gab ich mir alle Mühe, die gelernte australische Weisheit anzuwenden als ich müde und mit schmerzenden Muskeln sah, dass es am Folgetag durchgehend regnen würde. Und siehe da – das Problem löste sich von selbst. Thomas von der Loreley Winzergenossenschaft und Spitzenwinzer Matthias Riedel zögerten nicht eine Sekunde, als ich von meiner Sorge berichtete und kamen den ganzen Weg nach Leutesdorf gefahren, um mit meinem Mann und mir im strömenden Regen den Weinberg zu Ende zu pflanzen. Die Lehre ist einfach: Gute Freunde lassen dich nicht im Regen stehen. Sie gehen mit dir hinaus in den Regen!

Zum Abgabeschluss dieses Artikels sind seitdem wieder zwei Wochen vergangen. Die jungen Reben sind wunderschön angewachsen und die Arbeiten im anderen Weinberg sind abgeschlossen. Bereits einen Tag zuvor bemerkten wir die ersten Blüten. Die Winzer beginnen dann, die rund 100 Tage des Countdowns bis zum Beginn der Weinlese zu zählen, meinem zweiten Herbst in diesem Jahr. Das tolle Feedback zu meinem ersten eigenen Wein, das mich in Australien und auch zuhause in Deutschland erreicht, macht Lust auf mehr. Auch wenn ich es jetzt schon kaum erwarten kann: Freuen wir uns doch nun erst einmal auf einen schönen Sommer.

 

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